Die Historischen Grundwissenschaften zwischen Materialität und Digitalität

Die Historischen Grundwissenschaften zwischen Materialität und Digitalität

Organisatoren
SFB 933 „Materiale Textkulturen“, Universität Heidelberg
PLZ
69117
Ort
Heidelberg
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
31.03.2022 - 01.04.2022
Von
Alina Preis / Charlotte Schrüfer, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Vom 31. März bis 1. April 2022 fand die VIII. Jahrestagung des Netzwerks Historische Grundwissenschaften (NHG) zum Thema „Die Historischen Grundwissenschaften zwischen Materialität und Digitalität“ in Heidelberg statt. Die zweitägige Konferenz widmete sich den Möglichkeiten und den Grenzen der Grundwissenschaften und gab Einblicke in verschiedenste Fachbereiche und aktuelle Forschungsthemen im Hinblick auf das Spannungsfeld zwischen Digitalität und Materialität.  

Die hybride Veranstaltung wurde von MARIA EFFINGER von der Universitätsbibliothek Heidelberg eingeführt. In ihrer Begrüßung verwies sie neben der Relevanz der Langzeitdatenspeicherung bei der Digitalisierung von historischen Beständen ebenfalls auf die Gewährleistung der Nutzbarkeit von Daten. Damit sprach sie ein Problemfeld an, das im Verlauf der Tagung in den Vorträgen und Diskussionen oft präsent war.  

KIRSTEN WALLENWEIN, AARON VANIDES und WOLF ZÖLLER (Heidelberg) führten die Teilnehmenden zurück zu den Ursprüngen der Digital Humanities, die bei Roberto Busa und seinen Lochkarten zum Werk von Thomas von Aquin liegen. Das Projekt des italienischen Jesuiten steht charakteristisch für die Verbindung zwischen den im Tagungsthema angesprochenen Polen, der Materialität in Form der Lochkarten und der Durchsuchbarkeit des Werkes in digitaler, binärer Form. 

FLORIAN MÜLLER (Innsbruck) eröffnete Sektion I mit einem Vortrag zur 3D-Dokumentation, die als Methode zur Visualisierung von Oberflächen in der Archäologie dient. Dabei wurden die Chancen deutlich, die ein mobiles Setup, trotz des unkomplizierten Aufbaus bietet. Von den Objekten lassen sich Detailmessungen, Schnitte und Voluminabestimmungen erstellen und Abnutzungs- und Bearbeitungsspuren erfassen. Ein Problem stellen jedoch die Verwaltung und Aufbewahrung der generierten Daten dar, wie der Referent ausführte. 

Den zweiten Vortrag in dieser Sektion hielt MARTHE BECKER (Bielefeld), die in einer epigraphischen Mikrostudie anhand von Kaisertitulaturen Vorschläge zur Inschriftendatierung ableitete. 

JESSICA BRUNS (Halle) stellte in Sektion II ihr Promotionsvorhaben zum sogenannten Ratsprotokollbuch der Stadt Soest vor. Ratsprotokollbücher, also rechtsrelevante Dokumente in Lagen mit sehr komplexer Struktur stellen ein herausragendes Beispiel für administrative Schriftlichkeit dar. Durch eine Wasserzeichenanalyse konnte sie die ursprüngliche Lagenstruktur des Ratsprotokollbuchs, das nach einer Neubindung falsch zusammengeführt wurde, rekonstruieren. Dadurch ermögliche dieses Verfahren eine chronologische Neubewertung der Rechtstexte. Das Promotionsvorhaben soll später als Edition in gedruckter Form veröffentlicht werden.  

Mit der Materialität von Predigtsammlungen beschäftigte sich ALEXANDER MARX (Heidelberg). Er unterschied dabei zwischen Modelltexten, die als Vorlage für zukünftige Predigten dienen sollten, und Reportationes, also Notizen eines Zuhörers. Marx argumentierte, dass die Handschrift Paris, Bibliotèque nationale de France, lat. 14859 ein handliches Buch sei und sah darin den Beweis, dass der Codex bewusst bei den Predigten mitgeführt wurde. Diese Folgerung bestätigten ihm zufolge außerdem Orientierungs- und Verwendungsnotizen in der Handschrift. Innerhalb der Diskussion wurden Rückfragen zu den Schreibern und dem tatsächlichen Gebrauch gestellt, die in weiteren Forschungen beantwortet werden sollen.  

Im Abendvortrag näherten sich TINO LICHT (Heidelberg) und ROMEDIO SCHMITZ-ESSER (Heidelberg) der Materialität und Digitalität aus zwei unterschiedlichen mediävistischen Perspektiven ausgehend von ihren Forschungsschwerpunkten in der Geschichte und der Lateinischen Philologie des Mittelalters. Unterbekleidung im Mittelalter und die Volltextauswertung der Werke von Hrotsvit von Gandersheim dienten als konkrete Beispiele. Hierbei konnte gezeigt werden, dass digitale Infrastrukturen gewinnbringend als zusätzliche Hilfsmittel für Forschende einsetzbar sind. Jedoch könne technischer Fortschritt weder gute Ideen noch solide Forschungsfragen ersetzen. Diesbezüglich seien vielmehr die Forschenden selbst gefragt. Auch die Materialität werde weiterhin relevant bleiben. Die rege Diskussion machte deutlich, dass diese zentralen Fragen sowohl heute beschäftigen als auch in Zukunft beschäftigen werden.  

In Sektion III stellte DOMINIK TRUMP (Köln) ein Editionsprojekt zu den Kapitularien Ludwigs des Frommen und der Handschrift Paris, Bibliothèque nationale de France, lat. 4788 vor. Das Projekt strebe eine Neuedition der sogenannten Kapitularien von 814 bis 920 an und sei als Hybridpublikation in Form einer kritischen Printedition und einer digitalen Edition geplant. Eine Herausforderung seien dabei unikal überlieferte Texte wie das capitulare de moneta, das durch einen Wasserschaden kaum zu lesen ist. Bei der Lesung half eine Multispektralanalyse, die vom Centre for the Study of Manuscript Cultures (CMSC) der Universität Hamburg durchgeführt wurde, deren Potenzial aber auch durch die physischen Schäden eingeschränkt ist. 

PIA GEISSEL (Wolfenbüttel) widmete sich den Problemfeldern und Chancen der „Distant Diplomatics“ und stellte im Rahmen des Vortrags ihr Dissertationsprojekt zur Stilometrie und zu Urkunden vor. Ein von ihr angesprochenes Problem bestehe darin, dass digitale Urkundentexte auf analogen Editionen beruhen und somit auch das Layout in digitaler Form dargestellt werden muss. Für die quantitative Analyse seien diese Daten allerdings unwichtig. 

LORENZO BENEDETTI (Pisa) gab in Sektion IV einen Einblick in die Historischen Grundwissenschaften und ihre Rolle in Italien. Dabei machte er deutlich, dass vielversprechende Projekte aufgrund von fehlenden Mitteln eingestellt würden. In Italien existiere wenig Forschung und kaum Lehre in Bezug auf die Historischen Grundwissenschaften; auch mangele es an notwendigen Plattformen beziehungsweise Foren wie Fachzeitschriften. Generell beschränke sich das Interesse nur auf das Mittelalter. Benedetti forderte daher, die Paläographie und die Diplomatik auch für die Neuzeit zu etablieren und betonte die Relevanz der Historischen Grundwissenschaften für die gesamte Geschichtswissenschaft. 

In Sektion V stellten ANNE DIEKJOBST (Kiel) und CLAUDIA SUTTER (St. Gallen) digitale Editionen in XML/TEI vor und diskutierten die Möglichkeiten und Grenzen digitaler Editionen. Das Dokumentenformat TEI mache materielle Informationen algorithmisch verarbeitbar und gebe so die Möglichkeit, sich mit den Informationen auseinander zu setzen. Die Metadaten, die innerhalb der <description> verwendet werden, höben einzelne Elemente wie beispielsweise Höhe und Breite hervor, könnten aber etwa nicht die Tiefe eines Buches wiedergeben. Der Vorschlag der Vortragenden war hierzu, sowohl lokale Lösungen zu verwenden als auch einen eigenen Standard innerhalb der TEI zu entwickeln. Sie hofften ferner, dass in Zukunft ein gemeinsames Vokabular mit verstärkter Zusammenarbeit etabliert werde, um digitale Editionen zu normalisieren und in der Forschung verwendbar zu machen.   

Abschließend präsentierten MIRIAM WEISS (Mainz) und KATHARINA PRASSE (Mannheim) das Projekt der Nordhäuser Siegelsammlung. Nach einem Fund im Nordhäuser Stadtarchiv von rund 9.000 Siegeln stellte sich die Frage, wie man diese katalogisieren und nutzbar machen könne. In einer öffentlichen Datenbank sollen die Siegel wissenschaftlich beschrieben und digital erfahrbar gemacht werden. Erklärvideos und die Standards der Siegelbeschreibung sind in der Seite eingearbeitet. Die Methodik des maschinellen Lernens ergänzt die Community-basierte Auswertung und Beschreibung der Siegel. Citizen Science und Informatik gingen in diesem Projekt Hand in Hand und ermöglichten so, dass die Nordhäuser Siegelsammlung für zukünftige Forschung berücksichtigt werden könne.  

Die Abschlussdiskussion lotete das Spannungsfeld zwischen dem spürbaren Druck zur digitalen Umsetzung eines Forschungsprojektes und dessen Verwertbarkeit durch Nutzer:innen aus. Eines der identifizierten Probleme bestehe in den Kriterien der Vergabe von Fördermitteln, die häufig an die Entwicklung von Digitalisierungsstrategien gekoppelt seien. Die Diskutierenden sprachen sich dafür aus, bei Projekten gründlich abzuwägen, wie die jeweiligen analogen und digitalen Forschungsanteile gewichtet werden sollen. Am Schluss stand die Frage nach einer zukünftigen digitalen Quellenkritik. 

Konferenzübersicht:

Sektion I
Moderation: Alicia Lohmann (Heidelberg)

Florian Müller (Innsbruck): 3D-Dokumentation, Visualisierung und Zugänglichmachung antiker Objekte des Archäologischen Universitätsmuseums Innsbruck

Marthe Becker (Bielefeld): Erneut zu AE 1979,33: (K)ein Geschenk Salomes?

Sektion II
Moderation: Wolf Zöller (Heidelberg)

Jessica Bruns (Halle): Buchstaben, Schlüssel, Ochsenköpfe: Zur filigranologischen Untersuchung des ältesten sogenannten Ratsprotokollbuchs der Stadt Soest (1414–1509)

Alexander Marx (Heidelberg): Predigtsammlungen als archäologisches Artefakt: Materialität, Paratext und Diskursanalyse

Abendvortrag

Romedio Schmitz-Esser (Heidelberg) / Tino Licht (Heidelberg): Zwei mediävistische Perspektiven zu Materialität und Digitalität

Sektion III
Moderation: Kirsten Wallenwein (Heidelberg)

Dominik Trump (Köln): Die Kapitularien Ludwigs des Frommen und die Handschrift Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 4788

Pia Geißel (Wolfenbüttel): Distant Diplomatics: Problemfelder und Chancen

Sektion IV
Moderation: Aaron Vanides (Heidelberg)

Lorenzo Benedetti (Pisa): Die Historischen Grundwissenschaften in Italien

Sektion V
Moderation: Stefan Holz (Landesarchiv Baden-Württemberg)

Anne Diekjobst (Kiel) / Claudia Sutter (St. Gallen): Digitale Quelleneditionen in XML/TEI: Perspektiven und Potentiale

Miriam Weiss (Mainz) / Katharina Prasse (Mannheim): Vorstellung des Projekts „Die Nordhäuser Siegelsammlung. Wiedergefunden – digital verfügbar – bürgerwissenschaftlich erschlossen?!“

Schlussdiskussion mit anschließender Mitgliederversammlung

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Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
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